Das Gesagte und das Ungesagte

Quelle: 

Luigi Boscolo / Paolo Bertrando

Systemische Einzeltherapie

Heidelberg 1997, S. 42 – 47

Würde man einen erfahrenen Therapeuten (im Italienischen würde man „Maestro“ sagen) bei seiner Arbeit beobachten, käme man zu dem Ergebnis, daß er viele Dinge sieht und macht, die das Spektrum seiner Theorie übersteigen. Was der Therapeut sieht und macht, könnte auch anderen Theorien zugeordnet werden. Mit anderen Worten: Ein externer Beobachter würde seine eigenen Erfahrungen, Ansichten und Theorien heranziehen, um die Verbindungen zwischen dem Handeln des Therapeuten und den Theorien zu finden, die von der Theorie abweichen, nach der der Therapeut zu arbeiten vorgibt. Im allgemeinen ist sich der Therapeut dieser Zusammenhänge nicht bewußt. Dieses Phänomen, das zum Bereich des Unbewußten gehört, nennen wir das „Ungesagte“.

Man könnte diese Situation mit der des Autofahrens vergleichen. Manchmal sind wir in Gedanken versunken oder im Gespräch mit dem Beifahrer vertieft, und in solchen Momenten sind wir uns nicht bewußt, daß wir Auto fahren, weil unser „automatischer Pilot“ (das Unbewußte) das Fahren besorgt. Ähnlich verhält es sich mit dem, was der Therapeut sieht und macht: Vieles davon liegt außerhalb seines unmittelbaren Bewußtseins, obwohl er sein Handeln, ganz oder teilweise, später in der Reflexion rekonstruieren oder wiederherstellen kann. Unserer Erfahrung nach sind es das Therapeutenteam hinter dem Einwegspiegel oder ein Supervisor, die den Therapeuten dabei unterstützen, sich das Ungesagte bewußt zu machen. Durch diesen Vorgang der Bewußtmachung läßt sich leicht erkennen, wieviel Intuition und Erfahrung – und wie wenige theoretische Leitlinien – die Wahrnehmung, Entscheidungen und Handlungen des Therapeuten leiten.

Jeder Therapeut, unabhängig von der Theorie, die er vertritt, arbeitet nach einem epigenetischen Prinzip, das ihn bei der Integration der verschiedenartigsten Erfahrungen und Theorien führt. In diesem Licht betrachtet, ist der theoretische Purismus schlicht und einfach ein Mythos. Er ist auch deshalb ein Mythos, weil alle Theoretiker und Praktiker unseres Arbeitsgebietes ständig dem Einfluß unterschiedlicher Theorien ausgesetzt sind, angefangen bei den Theorien, denen sie während ihres Studiums begegnen, bis zu den Theorien, die sie aus der Fachliteratur und den Massenmedien aufgreifen.

Mit der folgenden Anekdote läßt sich das Thema Gesagtes und Ungesagtes besser veranschaulichen als mit einer Beschreibung. Kürzlich erzählte uns ein bekannter Kinderpsychiater, daß er in den 70er Jahren das Mailänder Zentrum für Familientherapie besucht und bei dieser Gelegenheit durch den Einwegspiegel beobachtet habe, wie die erste Mailänder Gruppe arbeitete. Er sei beeindruckt gewesen von dem großen Eifer und der „systemischen Strenge“, mit der die Gruppe diskutiert, Hypothesen gebildet und therapeutische Interventionen ausgearbeitet habe. Was ihn aber am meisten beeindruckt habe, sei der Unterschied zwischen dem in den Beschreibungen des Therapeutenteams explizit Gesagten und dem implizit Vorhandenen gewesen. Die Therapeuten hätten ein neues Vokabular benutzt, um ihre Konzepte und Handlungen zu definieren (Strategien, Muster, Beziehungen, zirkuläre Kausalität, Systeme usw.). Doch die Art, in der das Mailänder Team seine Hypothesen gebildet und dargestellt habe, habe aus seiner Sicht psychoanalytische Ideen und Annahmen impliziert, die als solche aber nicht explizit gemacht worden seien. Nach Aussage dieses Fachkollegen war also das im Team „Gesagte“ nicht identisch mit dem „Ungesagten“.

Es ist sehr wohl bekannt, daß das Mailänder Team zu Beginn seiner Forschungsarbeit beschlossen hatte, das systemische Modell zu übernehmen und „puristisch“ zu sein, das heißt, die Vermischung mit anderen Theorien zu vermeiden. Mit dem Bestreben, strikt systemisch zu werden, versuchte die Mailänder Gruppe jener Zeit, nicht nur das psychoanalytische Modell aufzugeben, nach dem sie früher klinisch gearbeitet hatte, sondern auch die psychoanalytische Terminologie. Die Formulierung von Hypothesen, die überprüft werden mußten, war ein zentraler Aspekt ihrer Aktivitäten. In ihren Teamdiskussionen wurden einfache Hypothesen, die oft auf einer linear-kausalen Perspektive gründeten, in komplexere Hypothesen eingebunden, bis schließlich die sogenannte systemische Hypothese erreicht war, die auf einer zirkulären Betrachtungsweise basierte, von der man wiederum annahm, daß sie (gemäß der Konzeption der Kybernetik 1. Ordnung) die Organisation des beobachteten Systems widerspiegle. Der Inhalt der Hypothese reflektierte das Wissen der Teammitglieder, das aus der Psychologie, der Psychoanalyse, der Psychotherapie, der Literatur, der Filmkunst und aus allgemeinen Lebenserfahrungen stammen konnte.

Selbst wenn systemische Therapeuten von sich behaupteten, „systemische Puristen“ zu sein, so benutzten sie doch unweigerlich Elemente aus den Theorien der Individualpsychologie. Ende der 80er Jahre und im Gefolge der feministischen Kritik an Batesons Einstellung zur Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen mußte Paul Dell (1989), der vielleicht puristischste der Puristen unter den Theoretikern der systemischen Therapie, eingestehen, daß die Unvereinbarkeit zwischen der systemischen Theorie und der Individualpsychologie nur eine Illusion sei. Er schreibt:

„Erstens möchte ich behaupten, daß die Individualpsychologie seit jeher mit der Praxis der Familientherapie dicht verwoben ist und immer dicht verwoben sein wird. Faktisch macht jede familientherapeutische Schule extensiven, allerdings oft auch impliziten Gebrauch von der Individualpsychologie. … Zweitens war meine frühere theoretische Arbeit zum großen Teil der strikte Versuch, die psychologische und empirische Erklärung von der reinen systemischen Erklärung zu trennen. … Im Rückblick scheint es mir, als ob meine konzeptionelle Arbeit (die systemische Theorie zu ,reinigen\‘) zum großen Teil nur deshalb möglich war, weil so viele Familientherapeuten die Individualpsychologie (die sie instinktiv für notwendig hielten) in das systemische Denken integriert hatten.“ (Dell 1989, S. 11 – Passage wurde für dieses Buch übersetzt) 

Es versteht sich von selbst, daß Dells Überlegungen mit dem in Verbindung gebracht werden können, was wir als das Ungesagte des systemischen Therapeuten definiert haben. Man könnte hier von einer Art „Besetzung“ des (systemischen) klinischen Modellgehalts durch Elemente aus anderen Modellen (etwa dem psychodynamischen, kognitiven, strategischen und strukturellen Modell) sprechen. Die erste Mailänder Gruppe kämpfte darum, bei der Entwicklung ihrer Sorte von systemischem Modell „puristisch“ zu bleiben, und betonte seinen formalen Aspekt. Mit anderen Worten: Über die Konzentration auf die formale Seite des Modells wurde der Gehalt der Hypothesen vernachlässigt, der mit den besagten unterschiedlichen Theorien und Erfahrungen zusammenhing.

Der postmodernen Denkart entsprechend, arbeiten Therapeuten aus unterschiedlichen Schulen inzwischen immer öfter in einem theorieleeren Raum und richten ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt der Therapeut-Klient-Beziehung. Lai (1985, 1993), ein bekannter italienischer Psychoanalytiker, plädiert für eine „Technik ohne Theorie“, die er „Konversationalismus“ nennt. Es handelt sich hier um eine Technik, die theoretische Strukturen und Typologien (etwa Freuds Libidokonzept, Objektbeziehungen, Kohuts Narzißmusdefinition und dergleichen) in der therapeutischen Konversation ausklammert. Es bleibt abzuwarten, ob diese Technik anwendbar ist und ob man mit seinem früheren Wissen tabula rasa machen kann. Wir fragen uns, was mit einem Novizen im therapeutischen Feld geschieht, der sich nicht mit klinischen Theorien auseinandersetzen mußte! Wir sind davon überzeugt, daß ein erfahrener Therapeut wie Lai sehr gute Arbeit leistet, weil er auf ein sehr reiches und strukturiertes „Ungesagtes“ zurückgreifen kann.

Den gleichen Vorbehalt könnte man jenen Therapeuten (z. B. Tom Anderson, Lynn Hoffman, Harlene Anderson und Harold Goolishian) entgegenbringen, die, von Postmodernismus, Dekonstruktionismus und sozialem Konstruktionismus beseelt, behaupten, daß die Hauptaufgabe des Therapeuten darin bestehen sollte, „das Gespräch offenzuhalten“ und „nicht-wissend“ zu sein; das würde bedeuten, daß er sein eigenes Wissen vergessen und alle Typologien ignorieren sollte, die sich mit dem Individuum und dessen Systemen beschäftigen. Der amerikanische Kurzzeittherapeut O\’Hanlon gab einmal einen Kommentar – wobei er auf die Kollegen verwies, die sich vom Mailänder Ansatz inspirieren lassen -, der hervorragend zu der beschriebenen Position paßt. Er sagte, wenn dem Therapeuten eine Hypothese einfalle, sollte er aufstehen, den Therapieraum verlassen und erst zurückkommen, wenn diese Idee aus seinem Kopf verschwunden sei!

Was Konversationstheorien in der Therapieausbildung betrifft, ist es äußerst fraglich, ob es für einen angehenden Therapeuten ausreicht, nur zu lernen, wie man ein Gespräch offen hält und sich unterhält. Oder werden nur die Ausbildungskandidaten erfolgreiche Konversationstherapeuten, die in den wichtigsten klinischen Modellen ausgebildet sind und dann davon abstrahieren können, um im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung in einem rein hermeneutischen Raum zu arbeiten. Wie der Leser dieses Buches verstehen wird, entspricht unsere Position nicht der Befürwortung eines reinen Konversationalismus in dem Sinne, daß die auf den Klienten und die Therapeut-Klient-Beziehung bezogenen Hypothesen und Typologien nur solange nützlich seien, wie sie nicht zu unumstößlichen Wahrheiten würden (Cecchin, Lane u. Ray 1993).

Wenn wir der Auffassung zustimmen, daß alles therapeutische Bemühen aus der Wechselwirkung zwischen der Persönlichkeit eines Therapeuten und den Erfahrungen und Theorien, mit denen er sich auseinandersetzen mußte, erwächst, dann laufen wir Gefahr, um der Einzigartigkeit eines Therapeuten oder einer persönlichen Synthese willen und zum Nachteil der Theorie eklektizistisch im Sinne eines reinen Akzeptierens zu werden. Was bis jetzt gesagt worden ist, ist unserer Meinung nach relevant für die Therapieausbildung. Während der erfahrene Therapeut tendenziell über die Theorie hinausgeht und sie aufzugeben scheint, ist das aber nicht empfehlenswert für den Anfänger, der sich erst die Theorie aneignen muß.

Bateson schreibt:

„… Samuel Butlers nachdrückliche Behauptung, daß, je besser ein Organismus etwas ,weiß\‘, er desto unauffälliger mit seinem Wissen umgeht; d. h., es gibt einen Prozeß, durch den Wissen (oder ,Gewohnheit – sei es des Handelns, der Wahrnehmung oder des Denkens) in immer tiefere Ebenen des Geistes versinkt. Dieses Phänomen, das für die Disziplin des Zen zentral ist, … ist auch relevant für alle Kunst und alle Technik.“ (Bateson 1985, S. 190)

Der Künstler beispielsweise (aber das könnte auch auf einen Therapeuten in der Ausbildung zutreffen)

„… muß üben, um die handwerklichen Komponenten seines Berufs zu beherrschen. Aber das Üben hat immer eine zweifache Auswirkung. Es macht ihn einerseits fähiger, zu tun, was immer er anstrebt; und andererseits macht es ihn aufgrund des Phänomens der Gewohnheitsbildung weniger bewußt dafür, wie er es tut. …Die Fertigkeit eines Künstlers oder vielmehr seine Demonstration einer Fertigkeit wird zu einer Botschaft über diese Teile seines Unbewußten.“ (Bateson 1985, S. 195-199)

Aufgrund dieser Überlegungen wird erklärbar, weshalb wir, wenn wir einen erfahrenen Therapeuten bei der Arbeit beobachten, einen Teil des Beobachteten als Worte und Handlungen identifizieren, die nicht den Theorien und Praktiken zugeschrieben werden können, die der Therapeut für sich in Anspruch nimmt. Wir sprechen hier zwar von technischen Fähigkeiten, doch gilt dies genauso für das theoretische Wissen, das mit der Praxis rekursiv verbunden ist.

Wenn das Ungesagte erschöpfend analysiert werden könnte, dann könnten die höchst idiosynkratisch erscheinenden Eigenschaften eines Therapeuten zurückverfolgt werden bis zu seiner komplexen Persönlichkeitsstruktur und Professionalisierung und bis zu den vielen Modellen, auf die er sich beruft. Was als Geheimnis der Kreativität eines Therapeuten daherkommt, ist die von ihm erzeugte Synthese aus all diesen Erfahrungen.

Mit der Erklärung des Ungesagten verhält es sich wie mit unserer epigenetischen Sichtweise. Im Laufe der Zeit sammeln sich im Therapeuten alle seine Erfahrungen und sein ganzes theoretisches Wissen Schicht um Schicht an. In seiner therapeutischen Arbeit wandelt er diese Erfahrungen und dieses Wissen um in Worte, Emotionen und therapeutische Möglichkeiten, deren Ursprung dem Therapeuten oft überhaupt nicht oder nur teilweise bewußt ist. Auf jeden Fall leitet er seine letzte Entscheidung über eine für die Therapie bedeutsame Idee aus der Interaktion mit dem Klienten ab. Danach ist es der Klient, der – mit Worten, Metaphern, Schweigen und Emotionen – auf die möglichen Wege hinweist, die der Therapeut einschlagen kann.

Wir möchten noch betonen, daß kein Therapeut ausnahmslos alle ihm präsentierten Fälle erfolgreich bearbeiten kann. Manchmal lassen sich die Persönlichkeit des Therapeuten und die Theorien, nach denen er arbeitet, nicht vereinbaren mit der Persönlichkeit und den Problemen eines bestimmten Klienten. Der Therapeut muß sich dies bewußt machen und so bescheiden sein, daß er aufgeben kann, wenn die Therapie in eine Sackgasse führt. Diese Wachsamkeit kann ihm helfen, mit einem für einen Therapeuten gefährlichen Symptom umzugehen, nämlich mit dem Gefühl von Omnipotenz.

Quelle: 

Luigi Boscolo / Paolo Bertrando

Systemische Einzeltherapie

Heidelberg 1997, S. 42 – 47